Nadeschda Runde, Deutschland, Dingolfing

Die gute Kraft des Handwerks

©Aus Russischen von Helene Abrams, Warendorf

© Illustration von Daniel Breininger, Aachen 

Lang ist es her. Es lebte einmal ein armer Schuster mit seiner Frau und drei Töchtern.
Alle drei Töchter waren klug und fleißig. Dazu waren sie auch noch von seltener Schönheit!
Jede Tochter hatte ihre Lieblingsbeschäftigung. Die Älteste züchtete Blumen, die Mittlere – Vögel, die Jüngste sammelte im Wald Pilze und Beeren für die Mahlzeiten.

Ihr Vater verlangte von seinen Kunden für die von ihm genähten Schuhe nicht viel. Er war zufrieden mit dem, was man ihm gab. Dabei war er in der ganzen Gegend ein geschätzter Schuhmeister. Es kam vor, dass seine armen Landsleute nicht zahlen konnten. Dann hatte er eben für ein Dankeschön gearbeitet.

Seine Töchter liebte der Schuster über Alles. Seine bescheidenen Einnahmen aber ermöglichten ihm keine andere Mitgift für sie, als ihre eigenen Spitzfindigkeit, Schönheit und Fleiß. Auch richtige Schuhe hatten sie noch nie getragen, sie liefen barfuß. Aber irgendwann beschloss der Vater, seinen Töchtern doch Schuhe zu nähen. Er holte aus seinem Werkzeugkasten ein für diesen Zweck zurückgelegtes Stück Leder. Als er aber die ersten Stiche gemacht hatte, brach sein Pfriem. Für einen neuen hatte er kein Geld. Er wurde traurig, ging in den Garten und weinte so bitterlich, dass einige Tränen auf einen Rosenstrauch fielen.
Da raschelten die Rosenblätter und eine Knospe sprach zu ihm:
„Warum weinst du so bitterlich, Schuster? Ist denn mit deinen schönen Töchtern etwas passiert?“ Der Vater erzählte von seinem Elend. „Weine nicht“, sagte sie. „Brich von meinem Strauch den größten Dorn ab und lege ihn in der Wohnstube hinter den Spiegel. Dann brich etwas vom Strauch ab und lege es unter das Bett deiner ältesten Tochter. Danach kannst du schlafen gehen.“

Der Schuster gehorchte. Er suchte den längsten Dorn am Rosenstrauch, brach ihn ab und legte ihn hinter den Spiegel. Auch einen Rosenzweig legte er unter das Bett der ältesten Tochter.
Am Morgen fand er hinter dem Spiegel einen guten Pfriem. Er schaute unters Bett… Was sah er dort? Sieben rosa Lederstücke, leicht und weich, und sieben grüne, fest und stark, wie die Blätter am Rosenstrauch. Da freute sich der Schuster und nähte der Tochter wunderbare rosafarbene Schühchen mit grünen Absätzen.

Es kam die Zeit, auch für die mittlere Tochter Schuhe zu nähen. Da er aber kein Leder hatte, grämte sich der Meister und weinte im Hof bittere Tränen. In der Nähe brütete eine Weißbrustente. Als eine Träne ihr auf den Flügel fiel, holte sie ihr verschlafenes Köpfchen unter dem Flügel hervor und fragte:
„Warum weinst du so bitterlich, Schuster? Ist denn mit deinen schönen Töchtern etwas passiert?“
Der untröstliche Vater teilte der Ente mit weißen Brustfedern seinen Gram mit. „Der ältesten Tochter habe ich Schuhe genäht, die mittlere muss wahrscheinlich weiterhin barfuß laufen.“
„Gräme dich nicht, schnatterte die Ente. „Nimm und setze mich heimlich unter das Bett der mittleren Tochter.“
Wie sie gesagt, so hatte er es getan. Am Morgen holte er unter dem Bett sieben weiße Leder hervor, leicht und weich, dazu noch sieben gelbe – feste und harte wie Entenfüße. Daraus nähte er seiner Mittleren wundervolle weiße Schühchen mit gelben Absätzen.

Jetzt war die jüngste Tochter an der Reihe. Mehr denn je grämte sich der Vater. Im Hof flossen ihm wieder die bitteren Tränen. Lange stand er am Tor und wischte sich die Tränen ab. Da setzte sich ein Marienkäfer ihm auf die Hand. Der Schuster wollte ihn abschütteln, doch haftete der Marienkäfer an der tränennassen Hand fest. So nahm der Mann ihn mit der anderen Hand und setzte ihn behutsam auf das Gras.

Plötzlich sprach der Marienkäfer zu ihm: „Ich kenn deine Sorge. Geh ruhig zu Bett, nur vergiss nicht, am Morgen unter das Bett deines Nesthäkchens zu schauen.“
Der Schuster ging schlafen, der Marienkäfer aber flog durch das offene Fenster ins Zimmer der jüngsten Tochter.
Am nächsten Tag holte der Schuster unter ihrem Bett sieben rote Leder mit Punkten hervor, weich und zart, und sieben schwarze, etwas fester als die Beinchen des Marienkäfers. Er ging sofort an die Arbeit.
Schicke Schühchen wurden es, und nun sprach er zu den Töchtern, als sie sich zum Abendbrot um den Tisch versammelt hatten:
„In der Wohnstube warten auf euch Geschenke. Geht und schaut sie euch an.“
Voller Freude probierten die Schwestern die Schuhe an. Der Ältesten passten die Rosaschühchen genau. Der Mittleren saßen die Schühchen auch gut. Nur der Jüngsten passten die Schühchen nicht, sie waren zu eng, der Marienkäfer hatte wohl zu kleine Lederstückchen hinterlassen.

Die Töchter bedankten sich bei ihrem Vater herzlich für die Geschenke. Die Jüngste aber merkte, dass der Vater nicht fröhlich war. Sie umarmte ihn und beruhigte:
„Sei nicht traurig, Vater! Sehr schöne Schühchen hast du mir genäht. Obwohl sie auch nicht passen, sind sie mir am meisten Wert.“ Mit diesen Worten packte sie die Schühchen in ihre wertvolle Lieblingsschatulle.
Die älteren Schwestern blieben ab dieser Zeit nur selten abends zu Hause. Wer solche schönen Schuhe hat, dem ist Spazierengehen und Tanzen ein besonderes Vergnügen. Bald heirateten sie beide. Sie hatten geschickte und fleißige Burschen als Ehemänner bekommen.
Sie lebten glücklich, in Eintracht und Seelenfreude.
Die Jüngste jedoch blieb bei Vater und Mutter wohnen, pflegte Blumen und Garten, hütete Gänse und Enten. Manchmal lief sie wie früher barfuß in den Wald.

Als sie einmal traurig war, öffnete sie ihre Lieblingsschatulle und holte die roten schwarz gepunkteten Schühchen heraus – Vaters Geschenk. Sie schaute in den rechten Schuh und sah plötzlich die älteste Schwester, im linken - die andere Schwester. So merkte sie, dass die kleinen Schühchen einen Zauber innehatten, und sobald sie Sehnsucht nach ihren Schwestern hatte, holte sie die Schuhe heraus. Der Blick in den rechten Schuh brachte ihr Freude, der Blick in den linken – doppelte Freude.

Eines Tages, während sie im Wald war, brach über das Dorf ein heftiger Sturm aus. Als das Unwetter vorbei war, lief das Mädchen schweren Herzens ins Dorf. Am verwüsteten Elternhaus rief sie nach dem Vater, nach der Mutter – aber niemand hörte sie. Alle Rosen im Garten waren von Hagel niedergeschlagen, vom Wind zerbrochen. Alle Entchen und Gänschen lagen im Hof tot.
Aus bitterem Leid weinte das Mädchen, erinnerte sich dann aber bald an ihre wertvolle Schatulle und an das Geschenk ihres Vaters. In dieser leidvollen Stunde wollte sie ihre Schwestern sehen.
Sie fand die Schatulle, schaute wie immer zuerst in den rechten, dann in den linken Schuh.
Statt der ältesten Schwester sah sie einen Rosenbusch, statt der mittleren Schwester - eine Ente. Um die Beiden liefen Kinder herum und klagten und weinten. Sie hörte sogar ihre jammernden Stimmen: „Mama, Mama! Mütterlein! Komm doch zurück!“
Sofort packte die jüngste Schwester ihre Siebensachen auf den Weg. Sie fand eine Brotkruste, nahm einen Krug mit Wasser, rollte in ein Tuch ihre wertvolle Schatulle ein, setzte sich vor der Abreise wie üblich kurz hin und… schlief ein.
Sie träumte von einer Birke auf dem Weg, die zu ihr sprach:
„Ich weiß, was dich traurig macht und wer dein Feind ist. Am anderen Ende der Welt lebt ein böser Zauberer, der den Menschen bereits viel Leid zugefügt hat. In seinem riesig großen Schloss ist ein See, das randvoll mit Menschentränen gefüllt ist. Wenn der See langsam austrocknet, mehrt der Bösewicht das Böse auf der Erde, und der widerwärtige See füllt sich wieder.
Er hat auch deine Eltern entführt und deine Schwestern verzaubert. Von deiner ältesten Schwester fällt jeden Tag ein Blütenblatt, von der mittleren – eine Feder ab. Wenn sie je sieben davon verlieren, müssen sie sterben.
In der ganzen Welt gibt es gegen diesen Zauberer keinen anderen Widersacher, außer der guten Kraft des Handwerks, über die dein Vater verfügt. Wenn der Zauberer einmal Schuhe anzieht, die mit seinem Wunderpfriem genäht sind, verschwindet der Bösewicht und sein hässliches, widerwärtiges Schloss zerschellt in kleine Stücke. Das weiß der Zauberer und hasst deinen Vater – den guten Meister.
Der Bösewicht hat aber ein Geheimnis: Er fürchtet sich bis auf den Tot, barfuß zu laufen. Sollte er barfuß die Mutter-Erde betreten, würde all seine böse Kraft restlos in den Boden versinken. Unsere Mutter-Erde lässt nicht zu, dass er gescheite Menschen tötet und dadurch Kinder verwaisen.“
Als das Mädchen erwachte, lief es sofort in den Wald, um die Eiche zu suchen, in dessen Stamm der Vater den Wunder-Pfriem versteckt hielt. Es fand ihn und packte ihn in den Beutel mit der Brotkruste, Wasserkrug und Schatulle.
Auf dem Weg durch den Wald sah es plötzlich die Birke, von der es geträumt hatte. Die Birke sprach es an: „Dein Traum ist eine Prophezeiung. Du allein kannst deine Familie retten. Ich gebe dir mein größtes Blatt. Lass es im Wind los und folge ihm, verlier es nicht aus dem Auge, so kommst du zum Schloss.“
Das Mädchen bedankte sich bei der Birke und machte sich auf den Weg. Das Birkenblatt flog und zeigte den Weg, das Mädchen lief hinterher. Wenn es außer Puste war, setzte es sich kurz auf einen Baumstumpf, um Luft zu holen, das Blatt aber lag vor seinen Füßen und wartete. Das Mädchen holte die Schatulle heraus, sah kurz in die Schuhe.
Im rechten Schuh sah es den Rosenbusch, im linken – die Ente und die weinenden Kinder drum herum. Hilflos streckte die Rose ihre Blätter zu den Kindern, Tau rollte wie Tränen von den Blütenblättern den Kindern in die Hände herab und auf der Erde lagen bereits fünf Blütenblätter. Neben der Ente lagen bereits fünf Federn.
So lief die jüngste Tochter mit bis aufs Blut zerkratzten Knien noch lange durch den Wald. Am sechsten Tag führte das Blatt sie zum Ort des Verderbens. Sie hielt kurz inne und lauschte der bedrohlichen, menschenlosen Stille. Dann hörte sie mit Schaudern, wie aus der Tiefe der Erde Stöhne von Menschen drangen.
Sie folgte dem Blatt in die Tiefe einer Höhle, fand dort die hungrigen und vor Kälte bibbernden Vater und Mutter. Sie teilte mit ihnen die Brotkruste, legte ein Lagerfeuer, damit sie sich aufwärmen konnten und erzählte ihnen von den durch den Bösewicht verzauberten lieben Schwestern. Als die Eltern in die Schuhchen sahen, wollten sie ihren Augen nicht trauen. Es war aber Eile geboten, weil am Boden bereits sechst Blütenblätter und sechs Entenfedern lagen.

Die jüngste Tochter holte aus dem Beutel den wundersamen Pfriem und gab ihn dem Vater. Da hörte man plötzlich eine piepsige Stimme von unten. Sie sahen auf dem Boden vor ihren Füßen drei Mäuschen sitzen. Das eine kletterte dem Schuster in die Hand und bat:
„Berühr doch mit dem Pfriem das Birkenblatt, das deine Tochter hierher gebracht hat.“
So machte der Meister es. Das Blatt wurde hundertmal größer und verwandelte sich in ein Leder.
Sofort machte der Vater sich an die Arbeit. Er nähte Schuhe, obwohl es ihm nicht leicht fiel. Zum ersten Mal meisterte er Schuhwerk in dieser Größe.
Schuh
Die Mäuse hatten dem Bösewicht bereits die alten Stiefel durchgenagt.
Jetzt saß er barfuß seit langen sechst Tagen an seinem widerwärtigen See und war wütend auf die ganze Welt. Dazu noch war der See bis auf die Hälfte ausgetrocknet. Bald hätte er nichts mehr gegen den Durst. Er schob den Riegel vor der Tür zur Seite, um hinaus zu schauen…. Was sah er da?
Er sah vor sich ein prächtiges Paar Schuhe und staunte nicht schlecht: „Woher können die wohl sein? Ich probiere sie an. Der Schuster, mein Erzfeind, muss vor Hunger und Durst in der Höhle bestimmt schon gestorben sein. Auch für seine Töchter läuft heute die Lebensfrist ab.“

Sobald er in die Schuhe geschlüpft war, fiel er atemlos um. Von seinem Schloss blieb nur ein Ruinenberg zurück. Nur die Schuhe des Meisters standen da. Alle freuten sich grenzenlos, auch die Mäuse. Sie kletterten in die Schuhe und … verwandelten sich in drei schöne Ritter. Der Schuster wunderte sich: „Das sind ja meine Schwiegersöhne!“ So erfuhren alle, dass von der bösen Verwandlung auch sie nicht verschont geblieben waren.
Der dritte Ritter hielt sofort um die Hand der schönen jüngsten Tochter an.

Es gab eine fröhliche Hochzeit. Auch die zwei älteren Schwestern waren gesund dabei. Die Kinder sangen im Chor, führten Tanzreigen und freuten sich von Herzen.

Seit der Zeit kannten die Menschen in der Gegend kein Leid und Elend mehr. Sie lebten in Frieden und Freundschaft miteinander noch viele Jahre

©